Mehr Leser durch mittlere Helden


Kategorie: Schreiben
| 30.03.2016 | 0 Kommentare

„Mittlerer Held“ - wer oder was ist das denn? In meinen Worten: Der mittlere Held ist ein Held in seiner Welt, aber kein VIP, Promi, Star, Megastar oder wie immer Sie ihn oder sie nennen wollen. Wie ich auf diesen Begriff komme?

An einem meiner letzten Seminare nahm Manfred Reiter teil. Vor seinem Leben als mittlerer Held bei der Commerzbank war er Literaturwissenschaftler. Und in seiner Dissertation über den historischen Roman Walter Scotts ist er auf die Rolle des mittleren Helden eingegangen. Also in Scotts Welt: Offizier statt König.

Was das mit Ihren Texten zu tun hat? Meine Erfahrung ist, dass in Kunden- und Mitarbeiterzeitschriften zu viele VIPs und zu wenige mittlere Helden vorkommen. Es wimmelt also in diesen Texten von Häuptlingen aus Vorstand, Geschäftsführung oder Bereichsleitung. Und die Indianer? Fehlanzeige!

Das Ergebnis: Langeweile. Mitarbeiterzeitschriften haben sowieso schon eine schwierige Ausgangslage, weil sie als Verlautbarungsorgane „von denen da oben“ gelten. Wenn dann nur "die da oben" darin vorkommen, fehlt erstens die Abwechslung. Und zweitens können sich die Leser nun einmal nicht so gut mit den Häuptlingen identifizieren. Mit einem mittleren Helden, also einem Kollegen, schon eher. Das wussten schon Walter Scott und Manfred Reiter:
 

„Er mußte ein durchschnittlicher, eben ein Mensch ohne besonders hervorstechende gute oder schlechte Eigenschaften sein, damit sich möglichst viele Leser mit ihm identifizieren konnten."

Manfred Reiter, Die Bedeutung der historischen Romane Walter Scotts für das deutsche Romanverständnis des 19. Jahrhunderts, Diss. masch. Leipzig 1989, S. 25


Lessing setzt noch einen obendrauf:
 

„So wie ich unendlich lieber den allerungestaltesten Menschen, mit krummen Beinen, mit Buckeln hinten und vorne, erschaffen als die schönste Bildsäule eines Praxiteles gemacht haben wollte: so wollte ich auch unendlich lieber der Urheber des ‚Kaufmanns von Venedig‘ als des ‚sterbenden Cato‘ sein. […] Bei einer einzigen Vorstellung des erstern sind, auch von den Unempfindlichsten, mehr Tränen vergossen worden, als bei allen möglichen Vorstellungen des andern, auch von den Empfindlichsten, nicht können vergossen werden.“

Gotthold Ephraim Lessing: Vorrede zu „Des Jacob Thomson sämtliche Trauerspiele“ 1756, in: Gotthold Ephraim Lessings Sämtliche Schriften, herausgegeben von Karl Lachmann und Franz Muncker, Band 7, Stuttgart 3. Auflage 1891, S. 66-17, hier: S. 68.


Okay, wir wollen es mal nicht übertreiben! Zum Heulen bringen sollten Sie Ihre Leser zwar nicht. Aber dennoch, Scotts, Lessings, Reiters und meine Empfehlung: Lassen Sie mehr mittlere Helden in Ihren Texten vorkommen!

Das ist für Leser interessanter als das ständige Vorstandsallerlei. Und außerdem bringen Sie damit denen Wertschätzung entgegen, die für Ihr Unternehmen genauso unerlässlich wie Vorstände sind: den mittleren Helden.
 


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